Best Practice

Neues Impfstoff-Konzept schafft Sprung aus der Hochschule ins eigene Unternehmen

01.04.2021 – An Universitäten und Hochschulen entwickelte Technologien – insbesondere in Bereichen der Grundlagenforschung, wie in unserem Beispiel der Immunologie – schaffen es selten zu marktreifen Produkten. Gründe hierfür gibt es viele: begrenzte Forschungsmittel zur umfassenden Erforschung und Weiterentwicklung der Konzepte und Technologien, fehlende Prüfung der wirtschaftlichen Verwertbarkeit bereits während des Forschungsprozesses und letztlich auslaufende Forschungsprojekte ohne Transfer in die Industrie. Den Nachwuchswissenschaftlern fehlt es an Kapital und Knowhow zur Unternehmensgründung sowie den notwendigen Industriekontakten. So wandern sie in neue Tätigkeitsfelder ab und die innovativen Forschungsergebnisse bleiben auf der Strecke. Zunehmend werden Gründer- und Transfer-Programme geschaffen, um die Lücke zwischen wissenschaftsbasierten Technologien und ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit zu schließen. Leuchtende Beispiele wie das Tübinger Start-up Prime Vector Technologies (PVT) zeigen, wie es geht. Wir haben Dr. Ferdinand Salomon, einen der drei Unternehmensgründer, interviewt.
Herr Dr. Salomon, stellen Sie bitte Ihr neues Impfstoff-Konzept kurz vor?
Das Kernprodukt unseres Unternehmens ist eine auf einem Schafpockenvirus, dem Orf-Virus (ORFV), basierende Vektorplattform zur Erzeugung von Impfstoffen. Der Orf-Virus hat ein relativ großes Genom und kann im Gegensatz zu anderen Vektoren genetische Information mehrerer Antigene und zusätzlich immunmodulierender Bausteine aufnehmen. Die ORFV-Technologie ist quasi ein modulares Baukastensystem, das es ermöglicht, schnell und flexibel passgenaue Impfstoffe für die Therapie und Prophylaxe von Krebs und Infektionskrankheiten herzustellen.
PVT Team
Bild: Die drei GründerInnen von Prime Vector Technologies von links nach rechts: Dr. Ferdinand Salomon, Dr. Ralf Amman, Dr. Melanie Müller
Was ist das Neue im Vergleich zu anderen Impfstoff-Konzepten?
Der Vorteil gegenüber den bisherigen Vektorkonzepten von Herstellern wie beispielsweise von AstraZeneca oder Johnson & Johnson: Im menschlichen Körper treten keine neutralisierenden Antikörper gegen das ORFV auf und Impfungen können somit beliebig wiederholt werden. Der Impfschutz gegenüber den Konkurrenztechnologien ist deutlich länger anhaltend und es können auch immunstimulierende Merkmale übertragen werden. Das liegt daran, dass die Infektionserreger-spezifischen Informationen oder Krebsmerkmale direkt in Antigen-präsentierende Zellen aufgenommen werden und neben einer starken Antikörperantwort auch eine zelluläre Immunantwort ausgelöst wird. Dadurch können sogar Krebszellen zerstört werden.  
Was war für Sie der Auslöser dafür, an der Technologie zu forschen und wie haben Sie das Konzept sukzessive weiterentwickelt?
Unabhängig von der aktuellen Sars-CoV-2-Pandemie war der Bedarf an effizienten Impfstoffen bereits seit längerem groß, insbesondere im Hinblick auf zunehmende Krebserkrankungen und die erhöhte Sterblichkeit durch Infektionskrankheiten einer stark alternden Bevölkerung. Forschungsarbeiten aus den Jahren 1999 bis 2014 unter Leitung von  Dr. Hanns-Joachim Rziha am Universitätsklinikum Tübingen (UKT) waren richtungsweisend und zeigten erstmals die Eignung von ORF-Viren als Virusvektoren. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits erste sichere ORFV-basierte Impfstoffe für Tiere entwickelt. Diese zeigten eine außergewöhnlich gute Immunantwort.
Wie ging es weiter?
Mit dem Aufbau einer Juniorarbeitsgruppe am UKT durch Dr. Ralf Amman, einem der drei Unternehmensgründer von Prime Vektor Technologies (PVT), wurden die Arbeiten im Jahr 2014 fortgeführt. Dieser Arbeitsgruppe, der auch Dr. Melanie Müller und ich angehörten, gelangen entscheidende Fortschritte hinsichtlich Variabilität und Verwendungsmöglichkeiten. So reifte die Idee, die ORFV-Plattform zu optimieren, um präklinisch entwickelte Impfstoffvektoren zur Therapie oder Prävention von Infektionskrankheiten und Krebs an Kunden aus der Pharmaindustrie auszulizenzieren. Im Oktober 2019 gründeten wir die PVT im Rahmen des bis voraussichtlich Mitte 2022 laufenden EXIST-Forschungstransfer-Projektes „Impfkraft“ aus der Universität Tübingen aus.
Welche Stellen oder Einrichtungen haben Sie bei der Unternehmensgründung, Finanzierung und Kooperationsanbahnung beraten und unterstützt?
Finanziell wurde das Projekt in den vergangenen sechs Jahren im Rahmen der GO-Bio-Innovationsakademie (BMBF), über industrielle Kooperationen, durch Mittel der Exzellenzinitiative der Universität Tübingen, der Carl-Zeiss-Stiftung und des EXIST-Forschungstransfers (BMWi) mit fast 30 Mio. Euro gefördert. Weitere Unterstützung haben wir unter anderem über die Biopro BW, BioRegio STERN, die Technologieförderung Reutlingen-Tübingen, das Steinbeis-Beratungszentrum, die MedTech-Startup-School der Uni Tübingen, CyberOne, Science4Life, die IHK Reutlingen, den German Accelerator Asia und German Accelerator Life Sciences erhalten.
Wie geht es nun für Sie und Ihr Unternehmen weiter? Welche nächsten Schritte stehen an?
Seit der Gründung im Jahr 2019 konnten wir erste Kunden gewinnen, stehen kurz vor einer größeren Industriekollaboration und wurden darüber hinaus im Frühjahr 2020 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) mit der Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffs der nächsten Generation beauftragt. Hier wurden bereits wichtige Meilensteine ​​erreicht, wie zum Beispiel die Erzeugung qualifizierter Ausgangsmaterialen, ein GMP-konformer Herstellungsprozess und der Proof-of-Concept in nicht-humanen Primaten. Ab Mitte des Jahres 2021 wird der Impfstoff in einer ersten klinischen Studie getestet und damit die Technologie erstmals auch im Menschen validiert. Auf dieser Grundlage werden wir die Plattformtechnologie und unser Produktportfolio mit einem therapeutischen Impfstoff gegen Krebs und einem weiteren Impfstoff im Bereich Infektionskrankheiten ab April 2021 weiterentwickeln und ausbauen.
Vielen Dank, Herr Dr. Salamon für die Vorstellung Ihrer Technologie und die spannenden Einblicke in Ihre Unternehmensgründung. Wir wünschen Ihnen bei den anstehenden Projekten und insbesondere bei der Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffes viel Erfolg.
Der Übergang der ORFV-Technologie von der Erforschung an der Universität mit einer vergleichsweise kurzen Verweildauer von 10 Jahren in die wirtschaftliche Verwertung ist ein leuchtendes Beispiel für einen gelungenen wissenschaftsbasierten Technologietransfer made in Baden-Württemberg. Insbesondere zeigt sich, wie wichtig es für den Transferprozess ist, neben der zündenden Idee für ein innovatives Geschäftsmodell, einen langen Atem und ausreichend Fördergelder und Kapital zur Finanzierung heranzuziehen. Zielführend für Prime Vektor Technologie war dabei, das Angebot verschiedenster Förderprogramme und Finanzierungsmöglichkeiten auszuschöpfen und sich über die einzelnen Technologieentwicklungsphasen hinweg an unterschiedliche Unterstützungs- und Beratungsstellen zu wenden. Die IHK Reutlingen und ihr Technologietransferprogramm unterstützen insbesondere Start-ups und KMUs mit Beratungen zu  Fördergeldern und zu gewerblichen Schutzrechten sowie bei der Kontaktvermittlung in die Wirtschaft und Wissenschaft. Auch überregionale Kontakte können über das Angebot des Baden-Württembergischen Technologietransfers vermittelt werden.
Weitere Informationen zum Angebot finden Interessierte auf der gemeinsamen Webseite des Baden-Württembergischen Technologietransfers www.ttm-bw.de   
Kontakt
Dr. Ulrike Bolz (Autorin)
Projektmanagerin Baden-Württembergischer Technologietransfer
Institut für Wissensmanagement und Wissenstransfer (IHK-IWW)
Bereich Innovation und Umwelt
IHK Reutlingen